18.10.2025

Du hast im Alter von 58 Jahren einen sehr ungewöhnlichen Berufswechsel vorgenommen!

Ja, das kann man schon sagen. Nach einer Karriere als Bankkaufmann und späterer Finanz- und Versicherungsmakler habe ich im Januar 2023 mit 58 Jahren eine Ausbildung zum Trauerredner gemacht.

Gab es besondere Gründe für diesen beruflichen Neuanfang?

Von 2010 bis 2022 habe ich privat viele schwere Schicksalsschläge erlebt: ein schlimmer Scheidungskrieg, die Erkrankung meiner späteren Lebensgefährtin an einer schweren Krankheit, sehr pflegebedürftige Eltern. Es nahm kein Ende und brachte mich an meine Grenzen – vielleicht sogar darüber hinaus. Das Leben zeigte mir unmissverständlich, dass es eben nicht nur immer vorwärts und nach oben geht. Das alles ging nicht spurlos an mir vorüber. Ich konnte über einen längeren Zeitraum meinen Beruf nicht mehr ausüben und musste erst einmal wieder zu Kräften kommen.

Danach stellte sich immer mehr die Frage, wie es beruflich weitergehen soll, denn meine alte Tätigkeit erschien mir nach all dem nur noch profan und unwichtig. Es wuchs der Wunsch nach einer sinnstiftenden Tätigkeit. Ich suchte nach einer Aufgabe, die wertvoll ist. Dabei wollte ich meine Fähigkeiten einsetzen, ohne etwas verkaufen zu müssen. Aber zuerst mal hatte ich überhaupt keine Idee. Bis zum Herbst 2022, da traf ich rein zufällig eine Bekannte mit ihrem Ehemann im Supermarkt. Er hatte zwei Jahre zuvor seine Tätigkeit als Trauerredner begonnen. Zwischen den Verkaufsregalen führten wir ein interessantes Gespräch und ich wurde neugierig. Es dauerte noch ein paar Monate, bis der Gedanke reifte. Im Januar 2023 meldete ich mich dann für einen Zertifikatslehrgang zum Trauerredner an. Zu diesem Zeitpunkt war ich 58 Jahre alt.

Der Berufswunsch Trauerredner ist für mich immer noch schwer nachzuvollziehen.

Ich habe immer das kreative Schreiben geliebt. Ich schreibe seit vielen Jahren Gedichte, Prosa und früher für meinen Sohn Kindergeschichten. Lyrik finde ich spannend und kann mich begeistern, wenn ich sehe, wie unglaublich wortgewandt, tief und fantasievoll Menschen ihre Gedanken zu Papier bringen (Michael Ende, Mascha Kaléko, Rilke, Julia Engelmann, Hesse, A. Saint-Exupéry) Von all dem war mein Beruf als Finanzberater sehr weit entfernt.

Woher hast du den Mut, das Selbstvertrauen gewonnen, diesen Schritt zu gehen?

Ab dem Moment, in dem ich meine neue Ausbildung begann, fühlte es sich dort „richtig" an. Seitens der Referenten erfuhr ich Lob. Endlich konnte ich meine Kreativität ausleben. Ich wusste ja bereits aus meinem vorherigen Beruf, dass ich vor Menschen sprechen kann. Natürlich hatte ich auch Zweifel. Einige Fragen schwirrten mir schon auch im Kopf herum: Was macht das mit mir? Wie wird es, wenn ich dauernd mit Trauernden zu tun habe? Schaffe ich das emotional? All das würde sich ja erst in der Praxis zeigen!

Wie war dann dein erstes Engagement?

Meine allererste Rede hielt ich, nachdem ich am Morgen intravenös Schmerzmittel verabreicht bekam. Ich hatte eine Rückenblockade und konnte kaum laufen. Trotzdem schaffte ich es. Die zweite Rede war im kleinen Kreis, aber die dritte Rede in einer großen Trauerhalle. Die Trauergemeinde war groß, und diese Rede empfand ich als meine Feuerprobe. Nun würde sich zeigen, ob ich den richtigen Weg gegangen war. Einige Stunden nach der Rede rief der Sohn der Verstorbenen bei mir an, er bedankte sich voller Begeisterung für die schöne Rede. Alles fügte sich zusammen. Die Zahl der Aufträge nahm zu und ich fühlte mich angekommen.

Ist es manchmal schwierig, vor einer Trauergemeinde zu sprechen, z.B. wenn es dir vielleicht selbst gesundheitlich oder seelisch schlecht gehen sollte?

Es bedarf durchaus einer gewissen Professionalität. Man muss quasi „performen", egal wie gut oder schlecht es einem geht. An dem Tag, als meine Mutter im Sterben lag, musste ich eine Trauerrede halten. Zuvor war ich noch bei ihr gewesen, die emotionale Belastung war also sehr hoch. Dennoch konnte ich die Rede nicht absagen! Über diese Verantwortung muss man sich im Klaren sein: Sich krank melden - das ist ausgeschlossen. Problematisch wird es auch, wenn die Stimme schwächelt. Eine Erkältung kann schon ein großes Hindernis sein.

Was ist das Wichtigste, das du als Trauerredner leisten möchtest?

Es erfordert viel Empathie, die Angehörigen dort abzuholen, wo sie sich gerade befinden. Sie durchleben eine Ausnahmesituation, denn sie haben einen geliebten Menschen verloren, und sind von Schmerz und Trauer erfüllt. Manche konnten sich verabschieden, andere stehen unter Schock, weil sie entweder die schlimme Nachricht erhielten und einen plötzlichen Tod erlebten. Meine Vorgespräche zur Abschiedsrede und Gestaltung der Trauerzeremonie tragen dazu bei, den Prozess der Trauerverarbeitung in Gang zu setzen. Dafür lasse ich mir die nötige Zeit und schaffe einen geschützten Raum. Natürlich ist es auch für mich oft sehr emotional, aber ich habe gelernt, damit umzugehen. Dennoch bleiben Erinnerungen an jede Situation. Manchmal ist es ein von den Angehörigen ausgewähltes Lied, ein Spruch oder eine besondere Geschichte.

Ich bin glücklich und dankbar, eine erfüllende Tätigkeit gefunden zu haben, bei der ich anderen Menschen helfen kann. Vielleicht ist es sogar eine Berufung. Mit meinen Reden möchte ich den trauernden Menschen zunächst einmal einen würdevollen Abschied ermöglichen und ihnen eine Stütze sein. Der Tag soll in guter Erinnerung bleiben. Das Wort „schön" vermeide ich hierbei bewusst, denn ein Abschied ist nie schön. Meine Webseite heißt „Trost in der Trauer". Ich baue oft amüsante Anekdoten aus dem Leben des/der Verstorben in die Reden ein, denn ein Schmunzeln unter Tränen ist befreiend. Meine Reden sind nicht nur Trauerreden, es sind „Lebensreden", sie feiern das Leben der Verstorbenen. Eine mit Herz verfasste Abschiedsrede soll ihnen dabei helfen, der verstorbenen Person noch einmal nahe zu sein. Oft spüre ich bei den Angehörigen große Dankbarkeit und Erleichterung, diesen schweren Tag gemeistert zu haben. Solche Momente erfüllen mich und bestätigen, dass meine Arbeit wichtig ist.

Wie würdest du andere ermutigen, etwas Neues im fortgeschrittenen Alter zu wagen?

Es ist nie zu spät, um etwas Neues zu beginnen! Man muss es nur wirklich wollen und bereit sein, die Komfortzone zu verlassen. Ich habe ja erlebt, dass ich schwere Situationen meistern kann, ich habe auch viel Erfahrung wie alle in meinem Alter. Das bringt doch Zuversicht und Zutrauen, auch so entsteht die Gelassenheit des Alters, dass man weiß, man kann etwas schaffen. Und ich muss mir auch nichts mehr beweisen, ich grenze mich mehr ab, weil ich ein größeres Selbstbewusstsein habe.

Ich kann mich natürlich fragen: Warum hast du das nicht schon viel früher gemacht? Ganz einfach, weil es zu früh gewesen wäre! Es ist genau jetzt die richtige Zeit! Man muss dem Leben vertrauen. Es bietet uns immer wieder neue Möglichkeiten und es liegt an uns, diese anzunehmen!

Wenn du an deine Persönlichkeit denkst: Was hast du dazu gewonnen?

Ich weiß genau, wie sich Schmerz anfühlt, kenne Nächte ohne Schlaf, das Gefühl der Einsamkeit und der Trauer. Deswegen kann ich heute auch mit sehr viel Empathie die Gespräche mit den Angehörigen führen – ich fühle mit ihnen, und das ist für mich stimmig. Gleichzeitig muss ich mich von ihrem Leid natürlich auch abgrenzen, zum eigenen Schutz.

Die Geschichten der Menschen sind völlig unterschiedlich, und so manches Lebenswerk hat mich wirklich sehr beeindruckt. Bei einem Trauergespräch hörte ich ein Zitat von Pablo Neruda: „Ich bekenne, ich habe gelebt". Da fragte ich mich immer wieder, ob es auch die richtige Überschrift für mein Leben sein könnte. Die Antwort darauf fiel mir schwer und ich spürte, hier besteht noch viel Nachholbedarf. Daran arbeite ich nun. Dieses Jahr kaufte ich mir nochmal ein neues Motorrad, obwohl ich dieses Hobby schon fast abgeschrieben hatte. Ich lebe noch viel bewusster als früher und bin dankbar für jeden schönen Moment.

Das Leben ist bunt – damit meine ich nicht nur die leuchtenden Farben! Es gilt, auch die dunklen Momente anzunehmen, und an ihnen zu wachsen. Ich persönlich glaube, dass es genau darum geht. Wenn alles schön und gemütlich ist, haben wir keinen Grund uns weiterzuentwickeln.

Sehen dich Geistliche als Konkurrenz?

Geistliche haben oft nicht die Zeit, so intensiv zu arbeiten wie ich. Das muss man berücksichtigen. Ich komme aber nie in Berührung mit ihnen, oder höre etwas, dass sie die freien Trauerredner als Konkurrenz empfinden.

Der Tod gehört sozusagen zu deinem Tagesgeschäft. In unserem Kulturkreis wird er gerne verdrängt.

Für mich ist der Tod „normal". Ich habe täglich damit zu tun und akzeptiere ihn als Teil des Lebens. Viele verdrängen ihn, außer wenn sie eine Beerdigung besuchen. Aber danach gehen sie sofort in den Tagesmodus über. Es ist wohl eine Art Selbstschutz. Es steht mir nicht zu, dieses Verhalten zu verurteilen, aber ich halte es für falsch. Jeder von uns geht irgendwann. Nichts ist von Dauer! In der fernöstlichen Denkweise gehört der Tod zum Leben, während wir dazu neigen, ihn vom Leben abzugrenzen. In einem meiner Trauergedichte finden sich die beiden folgenden Zeilen:

„Nutzt eure Zeit, denn sie ist endlich.

Betrachtet nichts als selbstverständlich."

Es sind genau diese beiden Sätze, die ich als Trauerredner gerne vermitteln möchte. Das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit macht uns demütiger, vielleicht sogar gelassener. Es lässt uns darüber reflektieren, was wirklich wichtig ist, und vielleicht können wir so das Leben noch mehr genießen. Aber genau das musste auch ich erst lernen. 

Lieber Holger Stein, vielen Dank für das Intervew!

Hier gehts zur Webseite von Holger Stein TROST IN DER TRAUER.