Liebe KlientInnen, UnterstützerInnen und Interessierte an älterwerden.net und Wagner-Biografien!
Liebe Ü100 Fans!
Noch nie ist es mir so schwer gefallen, meine Weihnachtsgrüße zu formulieren wie in diesem Jahr.
Zuallererst möchte ich Ihnen sagen, dass ich hoffe, dass Sie, Ihre Familie und alle Menschen, die Ihnen lieb sind, nicht von der Pandemie betroffen und gesund sind, oder es wieder geworden sind.
Corona zeigt uns deutlich, welche Menschen - ob privat oder beruflich - eine Bedeutung für uns haben. Denn wir vermissen sie schmerzlich: die Familie, enge Freundinnen und Freunde, gute Bekannte und Menschen, mit denen oder für die wir arbeiten. Das ist nur eine Erkenntnis von vielen, die wir von aus diesem schwierigen Jahr ziehen.
Darum: Ich wünsche Ihnen aufrichtig viel Kraft und eine gute Gesundheit für die kommende Zeit.
Dieses Jahr habe ich eine persönliche Weihnachtsgeschichte für Sie, erlebt am 22. Dezember,(sicher nicht perfekt - aber egal) geschrieben am heutigen Morgen.Als kleine Aufheiterung. Ältere Menschen haben Humor. Dem schließe ich mich an. Trotz oder gerade wegen der aktuellen belastenden Situation.
Hier nun meine Geschichte:
Weihnachtsgeschichte 2020
von
Dagmar Wagner (copyright)
Von unserer zwölfköpfigen Familie feiern mit den 82 und 83jährigen Großeltern dieses Jahr nur fünf Personen zusammen das Weihnachtsfest. Als die drei eingeladenen Gäste sind wir alle Corona negativ getestet, weil wir nämlich aus Bayern kommen. Zwei Geschwister bleiben mit ihren Ehepartnern und Kindern zuhause. Die Großeltern fürchten sich.
Niemand möchte in diesen Zeiten gerne einkaufen gehen, schon gar nicht in einen Supermarkt. Die hochaltrigen Großeltern sind davon natürlich ausgenommen. Die Partnerin des Enkels muss arbeiten, der Enkel selber hat keine Lust, seine Mutter zu begleiten.
Und die bin ich, muss das also alleine bewältigen. Selber schuld. Um die Anzahl der Einkäufe zu reduzieren nehme ich mir vor, die ganze lästige Einkauferei auf ein einziges schreckliches Mal zu reduzieren. Und das auch nicht erst am 24. Dezember sondern am 22., in der Hoffnung, auf diese Weise drohende Menschenmassen zu vermeiden. Das bedeutet: ein kompletter Einkauf für sechs ganze Tage. Denn erst am 28. Dezember sind die Supermärkte wieder auf.
Ein DIN A4 Einkaufsblock liegt vor mir, ich schreibe - systematisch nach Tagen geordnet - alle für den jeweiligen Speiseplan notwendigen Lebensmittel auf. Die Kochbücher liegen neben mir, ich möchte schließlich nichts vergessen. Mein Vater ruft mir zwischendurch zu:
„Bring mir noch ein DEO - Nivea for Men - mit. Es reicht zwar bis nach Weihnachten, vielleicht auch bis Silvester, aber naja...!"
„Was man hat, das hat man!",
füge ich verständnisvoll hinzu und notiere das Deo zum Posten „Drogerieartikel". Ich habe nämlich zwischen Obst/Gemüse, Getränke, Milchprodukte, Dosenwaren, Allgemeines wie Nudeln und Dinge (wie Lichterkette/Taschenkalender für Opa) unterschieden. Sonst wäre ich auf den 10 000 Quadratmetern im Supermarkt ständig von einer Ecke in die andere gelaufen mit weitaus mehr möglichen Risikobegegnungen, und die wollte ich vermeiden. Außerdem ist es auch anstrengend, weil der Einkaufswagen schließlich nicht leerer wird.
Auf diese Weise strategisch bestens vorbereitet fahre ich los. Die Parkplatzsuche verläuft glimpflich, es gibt auch keine Warteschlange vor der Eingangstür. Ich desinfiziere den Einkaufswagen und meine Hände sorgfältig an der Hygienestation. Eine ältere Dame wartet ungeduldig hinter mir, aber ich lasse mich nicht hetzen in diesen Zeiten.
In der Getränkeecke entscheide ich mich gegen meine sonstige Gewohnheit für eine ganze Kiste Bier. Mein Auftrag lautet, eine bestimmte bayerische Biersorte mitzubringen, was in einem hessischen Supermarkt natürlich ein hoffnungsloses Vorhaben ist. In der Mitte Deutschlands bieten sie nämlich Bier aus allen Regionen an, auch bayerisches Bier, aber eben eben nicht alle Sorten. Mein Sohn mit Freundin wollen länger bei den Großeltern zu bleiben, da lohnt sich doch ein Kasten Bier. Eine Entscheidung, die mir einige Zeit später zum Verhängnis wird.
Ich stelle die Kiste Bier natürlich nicht in den Korb sondern auf die untere Ablage meines Einkaufswagens. Die Getränkeabteilung ist ohne Spirituosen und Wein ziemlich übersichtlich. Danach stürze ich mich ins Getümmel, die anderen EinkäuferInnen verhalten sich alle erstaunlich rücksichtsvoll, wahren möglichst den Abstand und warten geduldig, bis ich mit meiner Suche - nach den von der mexikanischen Lebensgefährtin meines Sohnes bestellten Jalapeños - fertig bin. Das Studium von Produktregalen geht schon seit einiger Zeit nicht mehr ohne Brille, die krame ich umständlich aus meiner übergroßen Handtasche heraus. Aber egal, wer wo auf etwas warten muss: Alle kommen ohne blöde Kommentare, genervtes Stöhnen oder aggressive Begegnungen wie zum Beispiel:
„Wie lange brauchen Sie denn noch vor dem Kühlregal?"
oder
„Dürfte ich jetzt doch mal bitte durch."
aus. Früher hätte man sich einfach zwischen die suchende Person und das Produktregal gequetscht, und im besten Fall noch Worte wie
„Entschuldigung darf ich mal eben?"
genuschelt. Wenn man eigentlich meint:
„Ich muss da jetzt endlich auch mal hin!"
Doch all das bleibt wegen des vorgegebenen Sicherheitsabstands aus. Manche Produktregale wie zum Beispiel die Bioeier sind um fünfzehn Uhr schon leergefegt, ich komme mit weniger Risikobegegnungen aus.
Ich beende meinen Einkauf im Untergeschoss. Eigentlich bin ich fertig, wäre da nicht die Bestellung meines Vaters nach seinem Deo und einem kleinen Taschenkalender für 2021. Normalerweise holt er sich den bei seiner Bankfiliale ab, nur dass er dieses Jahr schon im Dezember längst vergriffen war.
Ich fuhr nun auf einem dreißig Meter langen Förderband ins Obergeschoss. Und wie alle anderen nehme natürlich auch ich meinen Einkaufswagen mit, der mit einem besonderen Sicherheitsmechanismus einrastet auf diesem Förderband. Er sollte durch nichts mehr zu bewegen sein, denn der Höhenunterschied ist mit 5,40 Meter gewaltig! Auf dem Weg zurück nach unten hat man es mit einem Gefälle von 18 Prozent zu tun. Das rechnete mir später mein Sohn Moritz aus.
Ich mache das wahrlich nicht zum ersten Mal, schiebe also meinen übervollen Einkaufswagen aufs Förderband und stelle mich entspannt dahinter, in freudiger Erwartung auf eine kurze Ruhepause. Rechts und links bietet der Supermarkt auf dem Weg nach oben weiterhin seine Waren an. Tatsächlich bin ich kurz davor, aus reiner Sentimentalität nach einer Originalpackung der reduzierten Gold fishli zu greifen, als mein Einkaufswagen langsam auf mich zuzurollen beginnt. Für einen kurzen Moment weiß ich nicht, was mir nun wichtiger ist: Den Einkaufswagen zu stoppen, oder schnell noch nach den Fishlis zu greifen, weil sie mich in meiner Kindheit glücklich machten. Doch diese Entscheidung wird mir innerhalb von Millisekunden abgenommen, denn der ursprünglich achtzig Zentimeter von mir entfernte Einkaufswagen rollt nun mit schnellerer Geschwindigkeit auf mich zu. Ich weiche ein paar Schritte nach hinten aus, um dann eingequetscht zwischen meinem Einkaufswagen und dem meines Hintermannes zu landen.
Dieser Mann mittleren Alters grinst mir jetzt wortlos zu. Und ich frage mich doch tatsächlich, ob der Sicherheitsabstand von 1,5 Metern jetzt noch einzuhalten ist. In dieser Position fahre ich weiter nach oben, die Erlösung naht, ein Ende ist in Sicht. Ich spüre einen kleinen Schmerz im rechten Ellenbogen und am rechten Bein, weil mich der Wagen an die rechte Seite quetscht. Ansonsten aber habe ich es gut überstanden.
Es kommt der ersehnte Moment, nur leider verläßt der leicht quergestellte Einkaufswagen das Laufband nicht. Mein Hintermann und ich rücken noch ein wenig näher zusammen, man könnte auch sagen, wir werden zusammengequetscht. Er sagt übrigens immer noch kein Wort!
Eine jüngere Frau steht nur 1,5 Meter entfernt auf sicherem Terrain, blickt überrascht zu uns herüber, und dabei bleibt es dann auch. Ich hebe inzwischen meine Füße, tänzele auf dem Laufband, sonst wäre ich ja direkt auf meinen sich keinen Millimeter wegbewegenden Einkaufswagen gestürzt. Und dann endlich schreie ich laut durch meine Maske um:
„HILFE!".
Immerhin: Eine Verkäuferin eilt herbei und hebt meinen Wagen vom Laufband herunter. Kurz danach schaltet sich das Laufband selber aus. Der rollende Einkaufsweg im Konsumtempel ist unterbrochen.
Der Schreck sitzt mir in den Gliedern, für eine Sekunde denke ich über mein weiteres Vorgehen nach. Teile meines Körpers tun weh, aber das interessiert doch keinen. Die Verkäuferin ist längst weg, niemand fragt oder tröstet mich:
„Haben Sie sich verletzt?"
oder
„Wie geht es Ihnen?"
Ich will keine Memme sein, konzentriere mich auf das Deo und den Taschenkalender, ergattere den allerletzten, auch dieses Produktregal ist leer. Deo ist noch da und zum Abschluss suche ich die Spirituosen- und Weinabteilung auf, kaufe noch den Weiss- und Rotwein ein.
Mein Einkaufswagen ist jetzt noch mehr beladen, damit wieder auf dieses Laufband zurück kommt für mich nicht in Frage. Ich bitte die Verkäuferin, die mich bereits einmal rettete, ob sie netterweise mit mir zusammen runterfährt:
„Offensichtlich sind doch die Rollen vom Wagen kaputt, ich habe große Sorgen, dass mir dasselbe auch nach unten passiert und der Wagen in andere Personen rollt."
Aber sie räumt gerade ein leeres Produktregal ein und meint kurz angebunden:
„Nehmen Sie doch den Aufzug!"
„Ach so etwas gibt es hier. Gerne. Wo ist der denn?"
„Sie gehen hier nach rechts und direkt, wo die Socken beginnen, da ist der Aufzug!"
Und damit wendet sie sich ab. Ich marschiere los, gelange zu den Socken und genau dort ist auch eine große Tür. Zugegebenermaßen sieht es mehr nach einem Lastenaufzug aus. Es ist 17 Uhr, ich habe noch nichts gegessen, fühle mich noch mitgenommen vom Geschehen und lese die Beschriftung vielleicht nicht mehr so ganz genau. Außerdem denke ich mir: Die Ortsbeschreibung stimmt doch auch!
Ich öffne die Tür, ein ohrenbetäubender Alarm geht los. Ich habe die 10 000 Quadratmeter Verkaufsfläche in Alarmzustand versetzt. Komischerweise regt mich das aber gar nicht auf, wahrscheinlich, weil ich dafür einfach zu müde bin. Ich denke mir: Sollen sie nur kommen und mich zurechtweisen, dann lege ich so richtig los. Dann werde ich Ihnen all meinen Schmerz, meine Panik, meinen Schockzustand auf dem Laufband, die Gleichgültigkeit der Menschheit und der VerkäuferInnen um die Ohren hauen. Tatsächlich warte ich auf genau diesen Triumph!
Ein sympathischer Verkäufer kommt angerannt, lacht mir freundlich zu:
„Ach ja!"
Ich stammele davon, den Aufzug zu suchen:
„Hier sind doch die Socken! Ihre Kollegin meinte, das wäre der Aufzug!"
„Der befindet sich am anderen Ende von den Socken, da müssen sie hin."
„Dann hat mir das Ihre Kollegin aber ganz falsch erklärt!"
erwiderte ich trotzig, um mir zumindest auf diese Weise ein wenig Luft zu machen. Und er lächelte mir wieder nickend zu.
Am „anderen Ende der Socken" finde ich dann den Aufzug und erreiche so wieder das Erdgeschoss. Wäre ich in den USA, wäre ich jetzt zum Rechtsanwalt gerannt. Leicht verletzt aber schwer traumatisiert ist schließlich mein Weihnachtsfest ruiniert.
Aber so geht meine Geschichte nicht aus:
Ich habe den Schreck überwunden.
Corona hält für einige von uns Schlimmeres parat!
Ihnen allen wünsche ich ein frohes Fest und ein besseres neues Jahr 2021!
Geben Sie nicht auf! Bleiben Sie gesund!
Viele von Ihnen sehe ich bald wieder. Irgendwann im neuen Jahr!
Ganz bestimmt und ich freu mich drauf!
Ihre Dagmar Wagner
Mein Dank geht an den Hausmeister des Supermarktes, der mir heute noch telefonisch die genauen Berechnungsdaten wie Höhenunterschied von 5,40 Metern sowie die Länge des Laufbands von 30 Metern gab, sowie an meinen Sohn, der mir damit das Gefälle ausrechnete, was übrigens ganz einfach war! Danke auch dafür, dass er mir jedes Jahr mein Weihnachtsfoto macht!