Nun studiere ich schon im 3. Semester das Fach Gerontologie im Masterstudiengang an der FAU Erlangen-Nürnberg. Coronabedingt wurden die Seminare im Wintersemester 20/21 und Sommersemester 2021 via ZOOM abgehalten. Jetzt im 3. Semester fahre ich zu jedem Seminar nach Nürnberg.
Während der ersten beiden Semester mussten wir alle schriftlichen Klausuren/Prüfungen in Präsenz ablegen - natürlich unter den größten Hygienevorschriften. Die Prüfungen beginnen in der Regel um 11 Uhr, also nehme ich dann von München einen Zug meistens gegen 8 Uhr, um genügend Zeitpuffer wegen eventueller Verspätungen meines Zuges zu haben. Schließlich können wir heutzutage nie sicher sein, pünktlich oder überhaupt an unserem Zielort mit der Bundesbahn anzukommen. Und da übertreibe ich sicherlich nicht, als ständige Viel-Zugfahrerin darf ich das so sagen.
Ich steige also am Münchner Hauptbahnhof in meinen Zug kurz vor 8 Uhr, suche mir einen Sitzplatz, bis plötzlich eine Stimme ertönt:
„Sehr verehrte Fahrgäste! Die Abfahrt unseres Zuges wird sich um eine Weile verzögern. Ursache: eine Leitungsstörung."
Auch wenn ich als DB-Fahrerin auf so etwas immer vorbereitet bin, kommt es mir in diesem Moment doch sehr ungelegen, und ich beschließe, etwas genauere Informationen einzuholen. Ein groß gewachsener Herr im dunklen Anzug mit einer DB-Anstecknadel und seinem Namen drauf schlendert durch mein Abteil. Den frage ich jetzt gleich mal, denke ich mir, der sieht doch sehr seriös aus.
„Entschuldigung. Könnten Sie mir bitte Genaueres zu unserer Verspätung sagen. Ich habe nämlich um 11 Uhr eine Prüfung in Nürnberg und müsste sonst eventuell mit dem Auto meines Sohnes fahren. Das könnte ich gerade noch schaffen."
Mir steht natürlich eine gewisse Dringlichkeit im Gesicht geschrieben. Wer hat schon Lust,wochenlang auf eine Prüfung zu lernen, um sie dann nicht schreiben zu können. Vor allem da ich mit meinen 61 Jahren alles viel schneller vergessen werde als meine jüngeren Kommilitoninnen. Und vor der Prüfung brauche ich viel länger fürs auswendig lernen, eine echte Quälerei in meinem Alter, auch wenn's zu schaffen ist. Diese Not ist mir ganz bestimmt anzumerken. Der freundliche DB-Herr im Anzug meint, dass er das nicht so genau wüßte, denn er sei von der Marketingabteilung und würde heute eine Fahrgastbefragung durchführen. Verständlich, dass ihm da Verspätungen nicht so wichtig sind.
Ich bleibe also erst einmal sitzen und warte ab. Aber irgendwie fehlt mir dann doch die Geduld, und ich verlasse das Abteil in Richtung Zugtür, wo wiederum derselbe DB-Mann im Anzug steht. Ich wiederhole meine Verspätungssorge, und dass ich eine Prüfung hätte.
„Da ist die Schaffnerin, fragen Sie sie doch einmal, sie weiß sicher mehr."
Die Schaffnerin oder besser Zugbegleiterin steigt gerade eine Tür weiter in den Zug, und ich mache mich auf den Weg zu ihr durchs nächste Abteil.
„Entschuldigen Sie, aber wäre es Ihnen bitte möglich, mir eine verbindliche Auskunft darüber zu geben, wann dieser Zug losfahren wird. Ich habe um 11 Uhr in Nürnberg eine Prüfung. Und wenn dieser Zug zu spät kommt, dann könnte ich doch den nächsten Zug 30 Minuten später nehmen. (Die Züge fahren von München im Stundentakt nach Nürnberg und das zweimal pro Stunde.)
Ebenso freundlich erwidert sie:
„Das macht keinen Sinn. Bei einer Leitungsstörung betrifft das ja alle Züge. Und da wir die ersten sind, die losfahren dürfen, bleiben Sie auf alle Fälle in diesem Zug."
„Na dann mache ich das und hoffe mal das Beste!"
Ich gehe zurück zu meinem Platz. Und mein Warten wird belohnt, tatsächlich fahren wir mit einer Verspätung von nur 25 Minuten los. Ich mache es mir nach all der Aufregung gemütlich im damals coronabedingt noch leeren Zug und studiere meine Notizen zur Auffrischung. Die Schaffnerin kommt zur Ticketkontrolle:
„Ihren Fahrschein bitte!"
Und natürlich strecke ich ihr mein Handy mit dem elektronischen Ticket entgegen:
„Bitte sehr."
„Und Ihre Bahnkarte noch!"
„Selbstverständlich!"
Dann schaut Sie mich kurz an, geht nicht gleich weiter, sondern fragt mich:
„Sie nehmen also eine Prüfung ab?"
Völlig unbefangen antworte ich:
„Nein, nein, ich schreibe selber eine Prüfung an der Uni!"
Wieder sieht sie mich so seltsam an, lächelt und geht weiter.
Es dauert keine 20 Minuten und die Schaffnerin kommt auf dem Rückweg wieder bei mir vorbei:
„Na nun kommen Sie ja rechtzeitig zu Ihrer Prüfung!"
„Ja ich bin heilfroh. Sonst hätte ich es noch mit dem Auto meines Sohnes probieren können. Wäre noch zu schaffen gewesen."
Sie nickt, lächelt und geht weiter, aber es dauert keine zehn Minuten, bis sie wieder neben mir steht.
„Das ist ja interessant. Was ist das denn für eine Prüfung?"
Langsam wird mir ihre Fürsorge etwas zuviel, und ich verstehe es auch erst gar nicht. Ich erkläre ihr, dass ich Gerontologie studiere an der FAU Nürnberg. Prüfend blickte sie mich dabei an, irgendwann ist sie dann auch wieder verschwunden.
Erst später kam mir der Gedanke, dass sie mich möglicherweise für verwirrt hielt - mich als ziemlich weißhaarigere, ältere Frau als Studentin, die mit der Bahn durch die Republik zu irgendwelchen Prüfungen fährt.
Während ich kurz vor unserer Ankunft in Nürnberg vor der Zugtür warte, erscheint auch wieder der DB-Herr im Anzug. Uns bleiben noch ein paar Minuten zum Quatschen, und ich frage ihn genauer nach seinem Job. Als Biografin bin ich in so etwas geschult, im Fragen stellen. Irgendwie muss dieses Gespräch dann Vertrauen geschaffen habe, keine Irre oder Verwirrte zu sein. Er läßt mich guten Wünschen für meine Prüfung aussteigen.
Soviel nette Fürsorge vom DB-Personal! Da sind wir doch alle gut aufgehoben!
Fortsetzung folgt!