Schreiben und Ihrer Lebensgeschichte eine Struktur geben können - klar, daran denken Sie zuerst, wenn Sie eine(n) Biografi(e)n engagieren. Sie möchten eine Person, die oder der das Handwerk versteht, weil Sie es eben nicht können. Richtig gedacht, aber das ist noch lange nicht alles.
Zuhören können - das ist mindestens genauso wichtig. Denn so, wie Sie sich beim Erzählen von Ihrem Gegenüber "angenommen" fühlen, so wird Ihre Biografie: Offen, spannend, berührend, bewegend oder eben vielleicht auch nur "alles aufgeschrieben". Punkt, Komma - und das war´s dann auch schon.
Sie meinen, jeder könnte doch Zuhören? Richtig und auch wieder nicht. Um Ihnen dazu einen ganz wunderbaren Einblick ins Zuhören zu vermitteln, hier die folgenden Zitate aus Hermann Hesses Buch Siddharta (1922) zum Fährmann. Siddharta entscheidet sich bei dem Fährmann Vasudeva zu bleiben und mit ihm das einfache Leben eines Fährmanns am Fluß zu lernen und leben. Ihm erzählte Siddharta sein Leben:
"Vasudeva hörte mit größter Aufmerksamkeit zu. Alles nahm er lauschend in sich auf, Herkunft und Kindheit, all das Lernen, all das Suchen, alle Freude, alle Not. Dies war unter des Fährmanns Tugenden eine der größten: er verstand wie wenige das Zuhören. Ohne, dass er ein Wort gesprochen hätte, empfand der Sprechende, wie Vasudeva seine Worte in sich einließ, still, offen, wartend, wie er keines verlor, keines mit Ungeduld erwartete, nicht Lob noch Tadel daneben stellte, nur zuhörte. Siddhartha empfand, welch Glück es ist, einem solchen Zuhörer sich zu bekennen, das eigene Suchen, das eigene Leiden...
„Ich danke dir", sagte Siddhartha, „ich danke dir und nehme an". Und auch dafür danke ich dir, Vasudeva, dass du mir so gut zugehört hast! Selten sind die Menschen, welche das Zuhören verstehen, und keinen traf ich, der es verstand wie du. Auch hierin werde ich von dir lernen."
„Du wirst es lernen", sprach Vasudeva, „aber nicht von mir. Das Zuhören hat mich der Fluß gelehrt, von ihm wirst auch du es lernen."
"Vor allem lernte er von ihm das Zuhören, das Lauschen mit stillem Herzen, mit wartender geöffneter Seele, ohne Leidenschaft, ohne Wunsch, ohne Urteil, ohne Meinung."
Ich hatte eine ganz wunderbare Klientin für meine Biografiearbeit: "Breit aus die Flügel - vom Baltikum nach Bayern" von Liselotte Alt. Eine wunderbare Frau, die inzwischen leider verstorben ist. Sie war selber Psychologin und meinte nach unserer Arbeit zu mir:
"Ich habe nun so viel mehr verstanden zu meinem Leben als vorher. Nicht einmal meine Psychotherapie hat das bewirkt!"
Ich glaubte zuerst, sie nicht richtig verstanden zu haben, fragte nach, wie das gemeint sei. Und Elisabeth Alt antwortete nur kurz:
"Sie hören anders zu!"
Damals habe ich das erste Mal verstanden, wie wichtig das Zuhören bei der Arbeit der BiografInnen ist. Und dass es eben Unterschiede gibt. Wie es im besten Sinne sein kann, das konnten Sie oben im Text aus Siddharta lesen. Das Allerwichtigste dabei ist: Kein(e) Biograf(in) sollte sie jemals bewerten, kritisieren, ihre persönliche Meinung zu Ihrem Leben äußern. Dafür sind wir nicht da. Gute BiografInnen nehmen Sie so, wie Sie sind, unsere Meinung ist absolut zweitrangig und völlig unbedeutend, wenn es um Ihr Leben geht.
Sie müssen sich angenommen fühlen. So wie Sie sind. Sonst öffnen Sie sich nicht wirklich, sonst beten Sie nur Fakten aus Ihrem Leben herunter, die jemand aufschreibt und dann drucken läßt.
Eine Verschwendung von Zeit und Geld!
Und noch etwas: Zu Corona-Zeiten verbringen wir - gewollt und ungewollt - mehr Zeit mit den Menschen, die uns nahe stehen oder es zumindest sollten.
Hören Sie einmal genauer hin, hören Sie zu! Nehmen Sie sich zurück. Nutzen Sie so die Zeit, die geliebten Menschen näher und anders kennenzulernen. Auch Ihre Kinder.
Lernen Sie das Zuhören!
Ihre Dagmar Wagner